© sfd-online.de
© sfd-online.de

Lesung: Peter Härtling „Felix Guttmann“

 

„Warum sind die denn damals nicht alle so schnell wie möglich geflüchtet? Ich hätte alles in Bewegung gesetzt, um da raus zu kommen.“ Unverständnis, ja fast Wut empfinden immer wieder Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich mit dem Verhalten der jüdischen Bevölkerung in Deutschland nach dem Machtantritt Hitlers auseinandersetzen. Bei dieser Frage mischen sich verschiedene Diskursebenen miteinander. Die Frage, wie viel Menschen 1933, 1936 oder 1939 wussten, wissen konnten oder wissen wollten, stehen neben der Frage, ob und in welchem Maße sich die damals lebenden Menschen als politische Wesen verstanden.

 

Felix Guttmann ist ein Mensch, der sich kaum für Politik interessiert, er wahrt Distanz zur politischen Realität in Deutschland nach 1933 und das, obwohl seine Freunde in der kommunistischen Partei sind und er ein intelligenter junger Mann ist.

 

Guttmann wird 1906 in Breslau geboren und ist das einzige Kind eines liberalen jüdischen Tuchhändlers und seiner Frau; die Familie hat es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Der Vater ist es, der das Reglement im Haus führt, er ist die unumstrittene Herrscherfigur, während die Mutter im Leben des Jungen kaum eine Rolle spielt. Ein wenig Zuwendung erfährt er von Elena, dem guten Geist des Hauses. Und dann gibt es da noch Onkel Jona, einen körperreichen Schneider, den der junge Felix gerne besucht und dessen Erzählungen er unter dem Tisch sitzend mit großer Begeisterung folgt. Bei ihm fühlt sich der kleine Felix wohl, dies soll so bleiben, bis Onkel Jona viele Jahre später dem Moloch zum Opfer fällt.

Mit den Jahren wir der Knabe älter, bleibt aber schmächtig. Er wächst heran und lernt, dass er sich als schmächtiges Jüngelchen gegen seine Spielkameraden auf dem Hof kaum durchsetzen kann, dass aber klug gesetzte Worte einen Streit vermeiden können, dass er so auch als “Sieger” aus einem Konflikt hervorgehen kann. Aus diesem Geduldet sein, reißt ihn der Ausbruch des I. Weltkrieges heraus, die Gleichaltrigen erkennen in ihm einen Feind, da er doch ein Jud sei, so kreischen sie ihn an.


Der hochintelligente Knabe wird vorwiegend alleine groß, er lebt in einer Phantasiewelt. Ohne Schwierigkeiten mit dem Lernen, lebt er ohne Freunde vor sich hin, bis Casimir Liebstock in sein Leben tritt. Die beiden fühlen sich sofort zueinander hingezogen, doch beschränken sie sich für die ersten Wochen auf einen Briefverkehr, bei der persönlichen Begegnung in der Klasse oder auf dem Hof geben sie sich fremd. Es entspinnt sich eine Freundschaft, die die beiden auf Lebenszeit verbindet.

 

Felix merkt schnell, dass – obwohl er körperlich klein geblieben ist – ihn zunächst die Mädchen, später dann die Frauen mögen. Und so teilen sie jede für sich, manchmal gleichzeitig, eine Lebensstrecke mit Felix: Irene, Mirijam, Katja, Laura und Olga… in Breslau, später dann in Berlin. In die große Stadt bricht er auf – nachdem er seinen Vater davon überzeugt hat – um Jura zu studieren. Doch während der Kreis um Casimir und Laura politisch denkt und handelt, hält sich Felix zurück. Der junge Mann zieht sich in die Rolle des Beobachters zurück, teilnahmslos steht er mehr dabei, verdrängt, was um ihn geschieht und genießt das leben in Berlin. Zusammen mit Mirijam durchstreift er Theater, Shows und Kabarett. So wie er sich nicht politisch festlegen will, will er auch im Privaten sich nicht festnageln lassen. Er nimmt auch den Preis der Trennung in Kauf, um das Heiraten zu vermeiden.

 

Das Studium schreitet gut voran, er promoviert und macht sich mit einer Kanzlei selbständig. Merkwürdig passend ist, dass sich der junge Anwalt auf Scheidungen spezialisiert. In einer anderen Zeit hätte sich sein Erfolg vermutlich fortgesetzt, doch mit dem Aufstieg Hitlers zum Reichskanzler verliert er seine Lizenz. Er steht (wie viele andere) vor dem beruflichen Aus. Jetzt kann selbst Felix – dem es bis jetzt erfolgreich gelungen ist sich aus allem Politischen herauszuhalten - nicht mehr verdrängen, dass das Straßenbild immer brauner wird, dass die Freunde fliehen müssen.

© sfd-online.de
© sfd-online.de

Sommerfeld, sein anwaltlicher Protegé, nimmt ihn mit zu jüdischen Organisationen und jetzt, in der Verfolgung, fängt Felix an, sich als Jude zu begreifen. Er arbeitet im Palästinaamt, in dem Ausreisen von Juden organisiert werden, nicht ohne, dass ihnen vorher noch das Letzte abgepresst wird. Für Felix spitzt sich die Lage zu, auch ihm gelingt es in letzter Minute, nach einem Termin bei Eichmann, bei dem er über Casimir ausgefragt wird, aus Deutschland zu fliehen. Sein Weg führt ihn zunächst nach Israel, später dann – im Jahr 1948 – wird er mit einem israelischen Pass in US-Uniform Deutschland wieder betreten. Er bleibt in Deutschland, arbeitet in Frankfurt als Rechtsanwalt und heiratet sogar. 1977 wird Felix Guttmann von einer Straßenbahn erfasst und mitgeschleift, er stirbt.

 

Peter Härtlings Roman umfasst nach der Kapiteleinteilung die Jahre 1906 bis 1977, jedoch ist die Zeit nach der Flucht 1937 nur andeutungsweise ausgeführt. Das Buch führt hinein in das Denken und Handeln, jedoch verliert es sich nicht in Details. Im Erzählen bleibt der Autor, ebenso wie sein Felix Guttmann, auf Abstand bedacht. Stimmungen transportiert Härtling leise, aber eindringlich, und ermöglicht so einen Geschichtsunterricht der besonderen Art.

 

Der intensive und leise Roman über das Leben und Schicksal eines Menschen, der unpolitisch sein wollte, der sich aber den Zeitläufen nicht entziehen konnte, bietet keine einfachen Antworten. Er eignet sich nicht, um nach der Lektüre sagen zu können: „So war es.“ Stattdessen fordert er zum neuen Nachdenken, über die historische Bedingtheit und den individuellen Spielraum beim Handeln jedes einzelnen auf. [zurück...]